Alchemistische Dramaturgie
Robin Junicke

Das Prinzip des Ähnlichen bestimmte weite Teile des Denkens vor der Aufklärung. Michel Foucault untersucht in Die Ordnung der Dinge die Geschichte der überindividuellen Denk- und Ordnungsmuster: Bis ins ausgehende 16. Jahrhundert hinein folge demnach die abendländische Kultur dem Prinzip der Ähnlichkeit. Dies betrifft direkte Analogien, in denen etwa der menschliche Körper in Bezug zum Universum gesetzt wird und auch Vergleiche von Verhältnissen: So stünden die Sterne im gleichen Verhältnis zum Himmel wie die Gräser zur Erde. Mit der Kraft der Sympathie könnten sich zudem auch unterschiedliche Dinge über das Prinzip der Ähnlichkeit verbinden, die Sonnenblume folgt der Sonne, die Wurzel wächst auf das Wasser zu. Hieraus wurden konkrete Handlungen abgeleitet: Die Ähnlichkeit der Walnuss etwa ließ den Schluss zu, dass diese gegen Kopfschmerzen helfen könnte; Sternenkonstellationen erlaubten Aussagen über das Schicksal eines Menschen. Elemente der Erde und des Kosmos wurden in Beziehungen gebracht. Wissenschaft und Magie verschmelzen zur Erklärung der Welt. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts werden diese Ähnlichkeiten als trügerische Illusionen abgetan und an ihre Stelle tritt die Repräsentation: Die Welt wird katalogisiert und umfänglich vermessen. Im 18. Jahrhundert tritt an diese Stelle dann das Organisationssystem, welches die Beziehung zwischen den Dingen in den Fokus stellt. Eine Gewissheit, die im 20. Jahrhundert wieder ins Wanken gerät, etwa wenn Jean-François Lyotard eine Vielzahl an gleichberechtigten Wahrheiten nebeneinanderstellt.

Die Alchemie des Mittelalters steht für die Hoffnung, einen Einfluss auf die Welt zu haben. Für die Möglichkeit der Veränderung, der Verwandlung. Alchemie versteht sich selbst als die Lehre von den Eigenschaften der Stoffe und ihrer Reaktionen. Es geht neben dem grundsätzlichen Verstehen-wollen der Welt und Praktiken, die heute wohl Chemiker*innen und Pharmazeut*innen zugeordnet würden, um die Transmutation (Umwandlung) von Metallen und Mineralien. Einer der bedeutendsten Alchemisten, Paracelsus, arbeitete bereits im frühen 16. Jahrhundert mit verschiedensten Stoffen und ihren Salzen. Sein Ziel war es, Dinge zum Besseren und Nützlicheren zu verändern und zudem Gegensätze zu versöhnen und zu einer Einheit zu führen. Seine konkrete Arbeit kann aus der heutigen Perspektive als Frühform der Naturwissenschaften verstanden werden. Als Allegorien oder Denkfiguren für dieses Streben wurden auch lebende Kunstwesen beschrieben, etwa der Homunkulus (künstlich geschaffener Mensch) oder der Hermaphrodit, (männliche und weibliche Aspekte vereinend). Rancières These, Kunst sei vor allem widerständig, indem sie die Ordnung der Wahrnehmung durchbricht, trifft auch auf diese Denkfigur zu: Die Rückbesinnung auf die transformative Hoffnung der Alchemie, den Wunsch, jenseits der geordneten Repräsentation Ähnlichkeiten zu suchen, und die Welt oder zumindest die Kunst jeden Tag ein Stück besser zu machen, ist meine Hoffnung für die Dramaturgie im 21. Jahrhundert.

In Anlehnung an Donna Haraway möchte ich noch die Diffraktion mit in diesen Abweg nehmen. Der Begriff ist der Optik entlehnt und beschreibt die Ablenkung von Wellen durch ein Hindernis. Diese Beugung erlaubt beispielweise dem Licht, Bereiche zu erreichen, die auf geradem Weg unerreichbar wären. Die Diffraktion unterscheidet sich somit deutlich von der Reflexion, welche beispielweise im Spiegel das Licht im gleichen Winkel zurückwirft, in dem es ihn erreicht hat. Im Gegensatz zu einem solchen Abbild verändert das Hindernis hier den eingeschlagenen Pfad, statt ihn auf sich selbst zurückzuwerfen. „Diffraktion liefert keine Abbilder und folgt nicht dem Modell der Repräsentation. Diffraktion beruht nicht auf der Differenz von Original und Kopie, sondern handelt von Nachträglichkeit und der Verbindlichkeit von Ereignissen, die immer schon vorbei sind und anderswo stattgefunden haben.“, schreibt Astrid Deuber-Mankowski in ihrer Lektüre von Donna Haraway und Karen Barad. Eine moderne Dramaturgie sollte versuchen, mit Reflexion und Diffraktion zu spielen, Hindernisse zu bauen, die mal ungefiltert zurückspiegeln und mal den eingeschlagenen Weg beugen, um neue Bereiche zu erschließen.

TachoTinta arbeiten aus meiner Perspektive permanent an neuen Wegen, Erfahrungen zu verknüpfen: die verschiedenen Erfahrungen innerhalb der Gruppe ebenso wie die von Wegbegleitern und Publikum. Der stetige Austausch, das Missverstehen und anschließende Diskutieren, das Denken über Positionen und Erfahrungen steht dabei immer im Gleichgewicht mit einer Arbeit an und mit Körpern. Mit der eigenen Bewegungspraxis und Choreografie ebenso wie mit den Erfahrungen und Perspektiven auf den Körper des Publikums. Was ich für meine eigene Arbeit innerhalb dieser Prozesse als Alchemie zwischen Reflexion und Diffraktion beschreibe, trifft auch auf die choreografische Arbeit und letztendlich auch auf die Rezeption zu. Oft dauern die Gespräche im Anschluss länger als die Performance selbst und noch Wochen später erreichen uns Berichte von Zuschauer*innen, was in ihnen umgelenkt, ausgelöst oder verändert wurde. Ich hoffe daher, dass sich etwas von diesem Prozess, den ich dramaturgisch zu stützen suche, bis in das Nachdenken der Zuschauer*innen nach der Performance weiterträgt und eine eigene Kraft und Dynamik entwickeln kann.

Die Alchemie hilft hier als Denkfigur, um mit Ähnlichkeiten und Veränderungen spielerische Wege zu eröffnen, sich und die Welt als veränderbar wahrzunehmen. Ein Theater, welches neben der Repräsentation von Ideen und Personen noch andere Verhältnisse zulässt, kann, nicht zuletzt informiert durch aktuelle Diskussionen zur Identitätspolitik, Inspirationen in der Alchemie suchen. Möglich wäre hier der Begriff des Postrepräsentativen Theaters. Wie auch im Postdramatischen Theater das Drama durchaus noch stattfindet und nur nicht mehr im Zentrum steht, wäre im Postrepräsentativen Theater die Repräsentation noch Teil des künstlerischen Vorgangs, aber nur eine von vielen Möglichkeiten. Als Kunst-begleitende, -ermöglichende und -schaffende Praxis ist eine Reflexion von Konzepten und Praktiken ebenso nötig wie die Diffraktion. Die Position, Teil des künstlerischen Prozesses zu sein, aber dennoch einen Blick von außerhalb der Bühne einzunehmen, erlaubt ein Spiegeln von Vorgängen und damit ein Sichtbarmachen von Wirkungen, Zusammenhängen und Rezeptionsperspektiven. Neben dieser möglichst neutral gehaltenen Reflexion ist die Dramaturgie zudem der Diffraktion fähig und kann so Gedanken, Experimente oder Abläufe in unbedachte Bereiche umlenken und so kreative Anstöße bieten und Vorschläge machen. Die Aufgabe liegt vielleicht ebenso im Lösen wie im Finden und Herstellen von Problemen.

In der dramaturgischen Praxis mit TachoTinta versuche ich, ein Postrepräsentatives Theater zu denken, welches Ähnlichkeiten sucht, um auf Abwege zu geraten, welches Transmutationen probiert, um die Welt ein Stückchen besser zu machen, und welches sympathetische Verbindungen sucht, um Nähe herzustellen, gegen jede Vernunft und Logik. Eine Kunst der Widerstände und Umarmungen – der Widersprüche und Umgarnungen. Diese Suchbewegungen sind der Anspruch, an dem ich scheitern möchte.