
Abb. 1: Nach der Show geht das Arbeitslicht an: Das Bühnenbild von Cultural Drag (Foto: Bernhard Siebert)
Ich beginne mit einem Foto, das ich am 30. September 2021 in Bielefeld gemacht habe. Im Herbst 2021 war ich auf einem Theater-, Performance- und Tanz-Festival, dem flausen+Festival. Es fand im Theaterlabor Bielefeld statt, auf einem Gelände knapp außerhalb des Stadtzentrums, wo sich auch eine Jugendherberge, eine Oberschule und eine kleine Parkanlage mit Boulder-Stein und Basketball-Korb befinden. Hinter dem Programm mit dem Titel „Flausen“ oder „Flausen+“ (sprich: „Flausen plus“) steckt die Idee, dass Künstler*innen nicht immer dazu gezwungen sein dürfen, auf eine Show oder eine Inszenierung hinzuarbeiten und damit auf das, was seit einigen Jahren als ‚Produktion‘ bezeichnet wird, sondern dass sie auch freier zu bestimmten Themen forschen können sollen – und damit prüfen, ob ihre Methoden oder Themen für die Bühne überhaupt was hergeben. Dazu nimmt das Flausen-Netzwerk seit mehreren Jahren Bewerbungen für vierwöchige Forschungsresidenzen entgegen, die in fast allen Bundesländern stattfinden können. Die Forschungsresidenzen verlaufen ganz unterschiedlich und haben demzufolge auch ganz unterschiedliche Ergebnisse: Manchmal stellt sich heraus, dass das Projekt eigentlich zu nichts führt; häufig aber wird erst durch die Arbeit klar, was jetzt eigentlich künstlerisch mit dem Material gemacht werden kann, das entwickelt wurde. Das Festival in Bielefeld hat jetzt viele Arbeiten gezeigt, aus deren Forschungsresidenzen letztendich dann doch fertige Stücke, also ‚Produktionen‘ entstanden sind. Eine dieser Produktionen ist das Tanzstück der Gruppe TachoTinta: In ihm entwerfen Silvia Ehnis Perez Duarte, Mijin Kim, Seulki Hwang und Enis Turan eine langsam anlaufende Bilder- und Gestenmaschinerie, die nach und nach Fahrt aufnimmt und das Publikum mit Eindrücken aus verschiedenen Kulturen und Traditionen konfrontiert: mit Kostümen, Posen, Choreografien, Haltungen oder ganz allgemein Arten, auf der Bühne zu sein.[1] Im Herbst 2021 hatte ich mir vorgenommen, als Erinnerungsstütze von alle Stücken, die ich sehe, die Bühne so zu fotografieren, wie sie von den Künstler*innen hinterlassen wird. Ich brauchte ohnehin einen Moment, um mir jeweils noch letzte Notizen zu machen. Sobald das Arbeitslicht anging und sich die Reihen gelichtet hatten, ging ich nach vorne, um ein Foto zu machen. Das Bild, das nach dem Ende von Cultural Drag entstanden ist (Abb. 1), zeigt für mich jetzt stark die Spuren des Stücks selbst, vielleicht eben auch gerade die Spuren der Gesten des dragging: Vorne links liegt ein einsamer Schuh, dessen Spitze in Richtung Zuschauer*innentribüne zeigt, im mittleren Bereich und hinten unter der Kleiderstange liegen einzelne glänzende Klamotten verstreut herum, und es ist nicht mehr recht erkennbar, um welche Kleidungsstücke es sich eigentlich genau handelt. Das Ende der Stoffbahn, die hinten rechts aufgehängt ist, liegt verzwirbelt in einem Strang auf dem Tanzboden. Im Arbeitslicht ist der Raum gnadenlos ausgeleuchtet und hat nicht mehr viel zu tun mit dem sorgfältigen, effektreichen Einsatz der Leuchtmittel im Zuge der Show selbst. Cultural Drag – der Titel kommt hier daher wie ein inhaltliches Versprechen, wie ein Konzept. Drag kann hier erstmal im performativen Sinne verstanden werden als eine Praktik, die aus einem queeren Zusammenhang kommt und die – nicht zuletzt durch Stars wie RuPaul in der Popkultur[2] und durch die breitere wissenschaftliche Auseinandersetzung, ausgehend von den Gender Studies[3] – in den letzten Jahren auf unterschiedliche Weise diskutiert wurde. Aber was hat es mit dem Adjektiv des Kulturellen, cultural, auf sich? Wenn das Team von TachoTinta einen Begriff wie den des cultural drag in den Titel eines Stücks hebt, dann beeinflusst das natürlich auch die Sichtweise darauf. Ich würde hier gerne der Frage nachgehen, inwiefern das Stück mit der Idee von drag spielt und auf die Schwierigkeiten der Übertragbarkeit des Begriffs auf andere Bereiche als den der gender performance aufmerksam macht, ja, diese Schwierigkeiten seinem Publikum als Denkaufgabe stellt. Um der Idee von drag näherzukommen, steige ich bei einer Szene ein, auf die ich immer wieder zurückkomme: Es gibt diese verblüffend ehrliche Geschichte, mit der Judith Butler sich selbst beim Lernen und Forschen in jungen Jahren darstellt und dabei auch Theater thematisiert. Diese Szene wird aufgerufen, wenn es darum geht, wie eigentlich der Begriff von drag in das Werk von Butler gekommen sei, vor allem in den Schlussteil von Das Unbehagen der Geschlechter. In Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen fragt Butler deshalb ganz direkt rhetorisch sich selbst: „Warum drag?“ Dafür gebe es biografische Gründe: „Wie wohl jeder weiß“, so Butler, „hat man in den Vereinigten Staaten nur die Wahl, mich in jüngerem Alter als Bar-Dyke zu beschreiben, als Lesbe, die tagsüber Hegel las und ihre Abende, jawohl, in der Schwulenbar verbrachte, die gelegentlich zur Drag-Bar wurde.“[4] Die „Schwulenbar“, von der Butler hier spricht, wurde also ab und an zum Drag-Lokal und damit eben durchaus auch zu einem Performance-Ort. Mit dem Hegel-Verweis spielt Butler auf etwas Dialektisches an, das sich zwischen Philosophie einerseits („reading Hegel“) und den Aufführungen in der „Schwulenbar“ andererseits („which occasionally became a drag bar“) entwickelt. Butler erfährt, so heißt es hier, so etwas wie die „implizite Theoretisierung von Gender“. Die Erfahrung wird so beschrieben: „Es dämmerte mir rasch, dass einige dieser sogenannten Männer Weiblichkeit viel besser darstellen konnten, als ich es jemals konnte, jemals wollte oder jemals können würde.“[5] Diese Überlegung führt zur Idee von Weiblichkeit als Attribut, das übertragen werden kann, dem also eine bestimmte „Übertragbarkeit“[6] eignet. Butler wird konfrontiert mit dieser Übertragbarkeit (im Englischen: transferabiltiy[7]) von Weiblichkeit und damit als Hegel-Leserin vielleicht auch mit der Frage, wie diese theoretisch zu fassen wäre. Das Drag-Lokal wird hier also zu einem Schlüssel-Ort für Butler, ja, vielleicht für Gender-Theorie schlechthin, weil sich hier eine „implizite Theoretisierung“ des Geschlechtlichen herausbildet, um nochmals auf diese verknappte Formulierung zurückzukommen. „Implizit“ ist das vielleicht insofern, im Sinne von Deleuze’ Leibniz-Lektüre, als dass sich hier etwas ein-ge-faltet präsentiert, das erst später ex-pliziert, aus-ge-faltet, entwickelt werden kann („plica ex plica“).[8] („Implizit“ ist hier aber vielleicht auch als Hinweis auf das Textile des Themas Drag an sich zu lesen.) Die Übertragbarkeit von Attributen stellt sich für Butler also in den Drag-Shows heraus, und das bringt die Übertragbarkeit von Attributen als solche bereits in die Nähe von drag: Attribute werden auf andere Körper, auf andere Zusammenhänge transferiert, gezogen (dragged). Drag wäre damit aber dann nicht nur eine mögliche Geste, die auf die Übertragbarkeit hinweist, sondern selbst eine Form der Übertragung, und dies wäre dann vielleicht auch im Zusammenhang zu lesen mit Butlers späterer Auseinandersetzung zu Geste, Zitat und Ereignis, für die Walter Benjamin und Bertolt Brecht herangezogen werden.[9] Gerade im Deutschen ist es verlockend, die Übertragbarkeit in diesem Sinne als Überdragbarkeit zu denken: Dragging als tragen, übertragen, über etwas anderem tragen, von hier nach dort tragen, in der Übersetzung tragen, nach dem Übergesetztsein. Es ist viel geschrieben worden über drag als queere Praxis, ich habe aber den Eindruck, dass im Englischen dragging gerade auch bezeichnet, dass ein digitales Objekt geklickt wird und über einen anderen Bildschirm an einen anderen Ort gezogen wird (dragged). Die Idee der Drag-and-drop-Technik ist also ein Ziehen und Wieder-fallen-Lassen von digitalen Objekten. Damit sind für mich die beiden Kontexte aufgemacht, die uns Cultural Drag anbietet: Das Stück fragt einerseits danach, wie queere Praktiken im Umgang mit Identitätsmarkern für kulturelle Zusammenhänge genutzt werden können, und andererseits, wie sich Copy-and-paste-Verfahren, also der Umgang mit schnell auszuführenden visuellen Rekontextualisierungs-Verfahren, auf die Idee der Komposition eines Tanzstücks auswirken können. Beide Perspektiven – drag als queere Praxis, drag als Ziehen eines digitalen Objekts – führen Probleme, aber auch Dringlichkeiten des derzeitigen künstlerischen Arbeitens vor Augen. Diese Überlegungen zur Nutzung von drag im Deutschen (und damit zur Übertragbarkeit des Begriffs ins Deutsche) führen genau zu dieser Frage: Wenn geschlechtliche Attribute übertragen werden können, inwiefern können dann kulturelle Attribute übertragen und für Inszenierungen genutzt werden? Cultural Drag von TachoTinta steht für mich in einem Zusammenhang mit anderen Arbeiten, die sich derzeit mit der Idee der Übertragbarkeit von kulturell spezifischen Tanz- und Bewegungsformen auseinandersetzen: Im Tanzstück mit dem Titel We ♥ 2 Raqs von Tümay Kılınçel werden unterschiedliche Tänzer*innen gezeigt, die arabische Tanzformen teils zögerlich, teils expressiv dem Publikum zum Sehen anbieten.[10] How I Learned to Love von Amelia Uzategui Bonilla geht es um unterschiedliche peruanische Tänze, allen voran La Marinera, die aus dem Paartanzkontext auf die Bühne gezogen werden.[11] Und Clara Reiner, René Alejandro Huari Mateus, Jacob Bussmann und Frédéric De Carlo erfinden in Local Dancing neue Volkstänze und probieren diese nicht auf einer traditionellen Bühne, sondern im öffentlichen Raum mit allen, die daran teilhaben wollen.[12] Cultural Drag von TachoTinta beginnt mit dem Blick auf eine nahezu leere Bühne, wir sehen nur im Hintergrund an einer langen Kleiderstange zahlreiche Kostüme hängen, rechts davon hängt ein großes Stück Stoff von der Decke. Durch einen technischen Effekt ist alles in gelbes Licht getaucht, Farbschattierungen lassen sich kaum ausmachen. „Woher kommst du?“, hören wir aus dem Off jemanden fragen. „Rate mal“, antwortet eine andere Person, als würde sie zu sich selbst sprechen. Kurze Pause. „Oh, da wollte ich schon immer mal hin“, heißt es von der ersten Stimme. „The Question comes sooner or later: Where are you from?” Nach und nach betreten die Tänzer*innen die Bühne. Die gewählte Lichtstimmung taucht auch sie in einen fahlen Gelbton. Dadurch, dass die unvermeidliche Frage nach der Herkunft am Anfang der Inszenierung steht, wird eines der Themen dieser Arbeit aufgerufen, nämlich der von einer rassistischen Grundstruktur geprägte Kontext, in dem sich Personen of color bewegen, nicht nur in Deutschland. Aber sind dies die Stimmen derer, die wir hier auf der Bühne sehen? Geht es um ihre Erfahrungen, oder wird hier etwas Allgemeineres vermittelt? Mit diesen Fragen kommen wir aber bereits zu einem anderen Kontext, der die künstlerische Produktion mit begreift. Denn „Woher kommst du?“, diese Frage verweist auch auf den Raum des Stückes als solchen und damit auf die Herkunft der Inszenierung und das Interesse dafür, wie sie entstanden ist und was sie konkret mit den Performer*innen zu tun hat. Es ist, als würde die künstlerische Arbeit zu uns sprechen, um uns Auskunft zu geben über die eigene Weise der Darbietung. Das Herkommen aus einem anderen Kontext bzw. die Annahme der Herkunft aus einem anderen Kontext kann dabei bereits als eine Art Wahrnehmung von drag begriffen werden. Jenseits von der Beschäftigung damit, inwiefern die hier wiederholte Frage „Woher kommst du?“ Rassismus-Erfahrung abbildet, stellt sich in Kombination mit dem Titel heraus, dass mit ihr gerade eine Authentizitätsprüfung für phänotypische Marker vorgenommen werden kann. Mich beschäftigt, mit welcher Ernsthaftigkeit TachoTinta ihrem Publikum unterschiedliche Tänze und Bewegungsmuster vorführen und diese dabei geschickt miteinander verschalten und aneinander weitergeben. Es wird mir rasch klar, das ich als Teil des Publikums an meine Grenzen komme, nicht nur, weil ich die Tänze nicht ohne weitere Recherche zuordnen kann, sondern auch, weil ich nicht darauf vertrauen kann, was mir zur Prüfung angeboten wird: nämlich dass die Performer*innen selbst einzelne Tänze aus „ihren“ Kulturen in das Stück mitgebracht (dragged) haben und den anderen angeboten haben, sie zu performen. Um die strategisch eingesetzte Verwirrung des Publikums komplett zu machen: Wir werden also nicht nur damit konfrontiert, inwiefern wir uns fragen, „woher“ die Performer*innen kommen, und auch nicht nur „woher“ die Inszenierung kommt, sondern letztlich auch, „woher“ das Bewegungsmaterial stammt, das uns hier gezeigt wird. Mit dieser Hereinnahme von kulturell konnotiertem Bewegungsmaterial, mit der Setzung und Montage, der Weitergabe und der Annahme dieses Materials steht dann letztlich die Idee des cultural drag in einem choreografischen Sinne im Raum: Was wurde hier in die Inszenierung ge-drag-t und inwiefern wird der Prozess dieses dragging-Moments (oder der unterschiedlichen dragging-Momente) nun in der fertigen Inszenierung wiederholt? Der choreografische Einsatz von Cultural Drag scheint zu sein, dass hier ein Team von Tänzer*innen zur Idee des Einsatzes von cultural drag keine einseitige Position entwickelt, sondern mehrere Perspektiven miteinander kombinieren. Es handelt sich dabei aber nicht so sehr um Perspektiven im Sinne einer ideologischen Diskussion als vielmehr um Ansichten von und Umgangsweisen mit Tänzen. Das Team von TachoTinta schildert im Ankündigungstext sehr genau, dass Cultural Drag aus dem Nachdenken über Rassismus und Ausgrenzung kommt. Die Gruppe schreibt: „Wir wagen das Experiment und werfen uns in Schale“, und weiter: „Stereotyping oneself als subversive Strategie, um mit Erwartungen, Zuschreibungen und Wahrnehmungen zu spielen. Alles steht unter dem Credo des Drag.“[13] Folgt man dieser Fährte, könnte gesagt werden, dass Silvia Ehnis Pérez Duarte, Mijin Kim, Seulki Hwang und Enis Turan Drag als „Credo“, als „Ästhetik“ nutzen, um in der Übertreibung etwas zu riskieren – und auch dem Publikum etwas anzubieten. Ich gehe hier auf eine Szene ein, die mich nachhaltig beschäftigt hat: Die vier tanzen etwa in der Mitte des Stücks unter Anleitung von Enis Turan eine synchronisierte Chorografie zu Musik, die ich als türkische deute – und der Tanz selbst scheint volkstümlicher Herkunft zu sein. Die Tänzer*innen blicken in einer Vierer-Formation in dieselbe Richtung, bewegen sich zu bestimmten Zeitpunkten um 90 Grad nach rechts um die eigene Achse, manchmal auch um 360 Grad. Die Bewegungen selbst erfordern allerdings eine sehr große Körperbeherrschung – immer wieder wird ein Bein sehr hoch geworfen, um es dann mit einem genau getimeten Schritt auf dem Boden aufkommen zu lassen. Ansonsten hat dieser Tanz etwas Federndes, die Tänzer*innen sind ständig in Bewegung, nach vorne, zur Seite, rückwärts, dabei immer in einer quadratischen Formation. Die Tänzer*innen gehen auch auf die Knie, alles nach der Anweisung von Enis Turan: „Hopp!“, hören wir im Publikum immer wieder als Teil der Live-Ansage. Das Bühnenlicht taucht die Körper dabei ganz in ein sattes Rot, das sie sehr kontrastreich erscheinen lässt. Die Arme werden intensiv eingesetzt: Teilweise wird mit erhobenen Händen getanzt, dann wieder werden Wellenbewegungen angedeutet, aber es wird auch immer wieder bei einzelnen Momenten gleichzeitig punktuell geklatscht. Dann passiert etwas Bemerkenswertes: Mijin Kim hört auf zu tanzen, betrachtet den Tanz der anderen von außen. Dabei ist erst unklar, warum sie die Formation verlassen hat, als eindeutige choreografische Entscheidung wird das aber sofort erkennbar. In der Aufführung, die ich gesehen habe, steht Kim dabei auf der dem Publikum gegenüberliegenden Seite der Bühne – wir können sie also sehr genau dabei beobachten, wie sie die Formation ihrerseits beobachtet. Sie scheint sie in gewisser Weise zu studieren, und in ihrem Gesicht spiegelt sich meine eigene Unsicherheit der Situation gegenüber: Kann ich in dieser Szene, die mit soviel Rhythmus und Verve performt wird, mitgehen, mitgezogen werden (to be dragged along), oder soll ich mich dem widersetzen, gerade weil ich gar nicht weiß, was da eigentlich getanzt wird und welcher – rituelle, folkloristische, geschichtliche, bedeutungsmäßige – Kontext damit aufgerufen wird? Dann verlässt auch Seulki Hwang die Formation und beobachtet gemeinsam mit Kim die verbleibenden Tänzer*innen – Enis Turan und Silvia Ehnis Pérez Duarte. Aber dann lässt auch Ehnis Pérez Duarte die Tanzbewegungen fallen (drop) und Turan tanzt allein weiter. Diese Situation wird dadurch zugespitzt, dass es letztlich auch keine Musik mehr gibt: Turan tanzt in Stille, und wir hören das Atmen und die Schritte auf dem Boden nun sehr deutlich, ohne die Sounduntermalung.

Abb. 2: Mijin Kim macht nicht mehr mit: Screenshot des Videomitschnitts von Cultural Drag (v.l.n.r.: Silvia Ehnis Pérez Duarte, Mijin Kim, Seulki Hwang)
Plötzlich kommt aus dem Off aber eine Unterhaltung von zwei Stimmen eingespielt, die ich als männliche wahrnehme: „Hey, suchst du Fun?“ – „Ja.“ – „Hast du auch XXX-Pics?“ – „Nice“ – „Woher kommst du, bist du Türke? [Pause] Wenn du Türke bist, dann will ich dich nicht treffen.“ Hier blicken nun alle vier Tänzer*innen ins Publikum, es ist still im Saal. Die Frage, die ganz zu Anfang schon in den Raum gesagt wurde („Woher kommst du?“) wird hier, nach dieser Tanzsequenz, wiederholt, etwa eine halbe Stunde später also, in der Mitte der Performance. Was sich hier für mich abbildet, ist die Darstellung der Grenzen von kulturellem drag. Wir sehen Tänzer*innen, die zeigen, wie es aussehen könnte, wenn nicht mehr mitgemacht wird, wenn die aufgetragene, übertragene, angewiesene, gedraggte Choreografie nicht mehr weitergeführt wird und stattdessen eine Outside-Eye-Position eingenommen wird. Dann wird diese Auseinandersetzung aber auch angebunden an den Rahmen des Stücks und an die Auseinandersetzung mit dem Verwiesen-Sein (und dem Reduziert-Werden) auf die eigene Herkunft: Die Frage nach der Herkunft von Personen wird kurzgeschlossen mit der Darbietung von kulturell tradiertem Bewegungsmaterial, dessen Herkunft nicht klar ausgezeichnet wird, und bei dem ein inszeniertes Dropping-out für das Publikum performt wird. In der Schilderung dieser Szene fällt mir auf, dass es für mich schwierig ist, eine Analyse vorzunehmen, weil ich selbst an eine Grenze des Schreibens gerate, oder vielleicht auch an eine Grenze des Festhaltens oder Festmachens – an eine Grenze dessen, was es heißt, eine Performance in die analytische Sprache herüberzuziehen (to drag) und hier einfach mal ein paar markige Sprüche fallenzulassen (to drop). So muss ich beispielsweise eine Differenz festhalten zwischen der bloßen Wahrnehmung und der eigenen Lektüre: Im Schreiben bilde ich ja gerade mein Lesen ab. Ich schreibe, um kategorisieren zu können und um mein späteres Lesepublikum kategorisieren lassen zu können, über als weiblich oder als männlich gelesene Körper, über als türkisch und als koreanisch gelesene Körper, über synchrone Bewegungen und solche, die asynchron werden und damit eine Differenz anzeigen, oder eine beginnende Differenzierung. Ich bin gezwungen, zumal als weißer, westlicher Zuschauer, eine Sprache zu finden, die in der Analyse nicht sofort selbst wieder die Vorannahmen wiederholt, mit denen hier so geschickt gespielt wird – und gleichzeitig habe ich aber das Bedürfnis, diesen Text nicht zu verstiegen werden zu lassen, weil ich den Eindruck habe, dass dann meine eigene Wahrnehmung und Erfahrung sich nicht mehr richtig abbildet. In mir entsteht der Eindruck, dass sich mit der Performance auch so etwas wie eine „implizite Theoretisierung“ eingestellt hat, um auf den von Butler gebrauchten Begriff zurückzukommen: Im geschickten Einsatz von drag, im Rückgriff auf kulturell Tradiertes, auf Stereotypen und Identitätsmarker, gelingt es dem Team von TachoTinta, eine Show über die Übertragbarkeit von kulturellen Attributen auf die Bühne bringen, die gleichzeitig die Grenzen dieser Übertragbarkeit auslotet. Dabei wird das aber bewusst nicht zu einer trocken-theoretischen Performance, vielmehr wird der Diskurs (oder werden zumindest dessen sprachlichen Anteile) selbst außen vor gelassen. Ich bin dazu verleitet, zu sagen, dass es sich um einen mitreißenden Abend handelt, bei dem wir als Publikum allerdings immer wieder in unserem Mitgerissen-Sein unterbrochen werden. Uns wird immer wieder angeboten, eine Außenposition zu diesem Mitgerissen-Sein einnehmen zu können. Insofern handelt es sich eben genau um ein doppeltes Angebot: mitgerissen-werden und unterbrochen-werden. Ich habe dieses doppelte Angebot gerne angenommen und versucht, mir darauf für mich so gut als möglich einen Reim zu machen: Ich habe nochmals die leere Bühne fotografiert, mir die Aufzeichnung angesehen, zu beschreiben begonnen – und damit versucht, die Erfahrung der Performance als solche in die eigene Sprache herüberzuziehen. Cultural Drag von TachoTinta fragt im Sinne Butlers also danach, inwiefern kulturelle Attribute übertragen werden können und damit nicht zuletzt auch Material für Tanz, Theater und Performance sind, indem hier einige mögliche draggings durchgespielt oder angeteasert werden. Nicht zuletzt in der Zurschaustellung der Möglichkeit des Aussteigens aus übertragenen Choreografien in der beschriebenen Szene wird damit eben auch gerade das Publikum aktiviert. Das Team von TachoTinta macht es uns also nicht einfach, aber genau darin liegt die große Kunst dieses Abends. Hier werden keine einfachen Positionen vertreten, die dann in der Sprache ohne große Mühe rasch nachgeformt werden können und auf die sich mehr oder weniger leicht bezogen werden kann. Ich komme nochmals auf das Foto zu sprechen, mit dem ich in den Text eingestiegen bin: Ich nutze dieses Foto als Mittel, um Cultural Drag nochmals zu mir heranzuziehen, herüberzuziehen. Mein Argument hier wäre genau dieses: Cultural Drag zwingt mich dazu, im Zuschauen, Nachdenken und Schreiben selbst die Show in irgendeiner Weise von der Bühne herunterzuzerren (to drag), auch wenn sie hier bei mir dann vielleicht nur in anderer Weise wieder auftaucht, weil ich sie selbst anders „färbe“ – oder eben einkleide, wenn man so will (in drag). Damit würde aber, auf eine ganz andere Weise, ein ganz anderes cultural dragging benannt, nämlich das, was zwischen Bühne und Publikum ständig stattfindet: Im Sinne einer Kulturtechnik der Lektüre dessen, was auf der Bühne stattfindet, durch die, die zuschauen. Insofern könnte man sagen, der Text, der hier aus meiner Beschäftigung mit Cultural Drag entstanden ist, zieht meine Beobachtungen aus dem Stück heraus, extrahiert sie (draggt sie) und fügt sie in einen anderen Zusammenhang wieder ein, nämlich den der sprachlichen Auseinandersetzung (droppt die extrahierten Daten also wieder woanders, wenn man so will). Das Team von TachoTinta macht mit Cultural Drag also gerade auch einen Kommentar zu Momenten der Übertragung kultureller Attribute in Alltagssituationen, in Theater, Performance und Tanz – allgemeiner: in anderen angrenzenden Szenen. Cultural Drag lässt uns Formen von cultural drag ein wenig mehr auf den Begriff bringen, indem das Stück danach fragt, wie dessen Einsatz möglich ist.
(Frankfurt am Main, im Dezember 2022)
[1] Ich konnte Cultural Drag von TachoTinta am 30. September 2021 im Theaterlabor Bielefeld sehen.
[2] Vgl. u.a. Ramey Moore: “Everything Else is Drag. Linguistic Drag and Gender Parody on RuPaul’s Drag Race”, in: Journal of Research in Gender Studies 3(2), 2013, S. 15–26; zuletzt: Mario Campana, Katherine Duffy, Maria Rita Micheli: „‚We’re all Born Naked and the Rest is Drag‘: Spectacularization of Core Stigma in RuPaul’s Drag Race“, in: Journal of Management Studies, Nr. 59, Ausgabe 8 (Dezember 2022), S. 1950–1986.
[3] Vgl. u.a. Katrin Sieg: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor 2002; Renate Lorenz: Queer Art. A Freak Theory, Bielefeld 2012.
[4] Well, there are biographical reasons, and you might as well know that in the United States the only way to describe me in my younger years was as a bar dyke who spent her days reading Hegel and her evenings, well, at the gay bar, which occasionally became a drag bar. Judith Butler: Undoing Gender, S. 213.
[5] Judith Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2011, S. 338.
[6] Ebd., S. 339.
[7] Ebd.
[8] Vgl. Gilles Deleuze: Le Pli. Leibniz et le baroque, Paris 1988.
[9] Vgl. Judith Butler: Wenn die Geste zum Ereignis wird. Hg. v. Anna Babka, Matthias Schmidt, übers. v.
Anna Wieder, Sergej Seitz, Wien 2018.
[10] Vgl. Tümay Kılınçel: We ♥ 2 Raqs (2021). Ich konnte die Arbeit am 01.11.2022 im Künstler*innenhaus Mousonturm, Frankfurt am Main, sehen.
[11] Vgl. Amelia Uzategui Bonilla: How I Learned to Love (2022). Ich konnte die Arbeit bei der Premiere am 9. Dezember 2022 im Frankfurt LAB, Frankfurt am Main, sehen.
[12] Clara Reiner, René Alejandro Huari Mateus, Jacob Bussmann, Frédéric De Carlo: Local Dancing, ein Projekt im Rahmen des diesjährigen Frankfurter IMPLANTIEREN Festivals 2022/23. Ich konnte selbst mittanzen am 15. Januar im Festsaal des Studierendenhauses in Frankfurt am Main.
[13] Vgl. tacho-tinta.com, zuletzt abgerufen am 23. Dezember 2022.