Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie.
Manchmal antwortet auch jemand anders.
Ich rechne nicht mehr damit, verstanden zu werden.
Mathematik ist nicht mein Fach.
Barbara Köhler, 1995, Blue Box
Der internationale Ground to Air-Emergency Code ist ein Kommunikationssystem, das für den Austausch von Informationen zwischen Luftraum und Boden entwickelt wurde. Er wird eingesetzt, wenn medial voneinander abgeschottete Gesprächspartner*innen in Kontakt treten müssen: Ein Gespräch zwischen Himmel und Erde. Jemand ist auf einer Insel gestrandet und möchte Suchteams in der Luft auf diese missliche Situation aufmerksam machen. Isoliert, verschollen, abgestürzt und verirrt, aber voller Vertrauen, dass alles Gute von oben kommt. Der Ground to Air-Emergency Code ermöglicht es Menschen am Boden, auch ohne Funkgerät mit Menschen in der Luft in Kontakt zu treten. Der Code besteht aus verabredeten Liniensymbolen, die aus gefundenen Materialien ausgelegt werden. Diese Zeichen ermöglichen den Gestrandeten die Übermittlung einfacher Botschaften – zum Schreiben bieten sich Steine, Wrackteile, Baumstämme, Algen oder andere kontrastreiche Gegenstände an, die man in der Umgebung so finden kann. Das Zeichenrepertoire ist sehr begrenzt, nur rund 20 mögliche Aussagen lassen sich im Code vom Boden aus treffen. Und die wesentliche Kommunikation geht nur in eine Richtung: himmelwärts. Das hat der Code mit einer Anrufung gemein. Der Luftverkehr seinerseits hat nur zwei mögliche Antwortzeichen: Eines für Verstanden (ruckelnde Kippbewegungen der Flügel) und eines für Nicht verstanden (eine volle, gut sichtbare Drehung rechtsherum). Wenn die Personen am Boden wiederum nicht verstehen, was in der Luft geschieht, müssen sie das schnellstmöglich signalisieren. Hierfür haben sie ein Zeichen zur Verfügung.
Aneinander vorbei (reden, gehen)
Not understood.
Der Ground to Air-Emergency Code hat Zeichen für Verständnis und Unverständnis. Aber er hat kein Zeichen für das dazwischen: Für das Missverständnis. Der Ground to Air-Emergency Code ist keine Sprache. Denn Sprache gibt es nur da, wo Missverständnisse möglich sind – wo der Austausch »Spiel« hat: Raum, Bewegung, Perspektive, Mehrdeutbarkeit. Aber dieser Code ist – ironischerweise – keine Auslegungssache, er ist reine Geometrie, ohne ein ausgefuchstes, mehrdeutiges oder historisch gewachsenes Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem. Darin ist er eine gewissermaßen mathematische Form von Gespräch, Information im allerengsten Sinne: in Stein gemeißelt, ins Land geschrieben, räumlich realisiert. Er zeigt, er erzählt nicht, er ist kühl und wortkarg, buchstäblich distanziert. Aber eine Voraussetzung für Missverständnisse ist eine gewisse Nähe, die hinreichend ist, um spekulieren zu können. Die Unschärfe eines Missverständnisses kann paradoxerweise erst entstehen, wenn genau genug geschaut werden kann, um überhaupt Spielräume für Interpretationen, Vorannahmen und Ahnungen zu haben. Zwischen Erde und Luftraum sind diese Spielräume nicht gegeben, weil die Distanz zu groß ist für eine so intime Angelegenheit wie das Missverstehen der anderen Warte. Anders gesagt: Zwischen Himmel und Erde sind die Spielräume zu groß, es gibt keine Anhaltspunkte, alles wäre möglich, alles denkbar, alles gleichwahrscheinlich. Das Missverständnis setzt voraus, dass eine Begegnung stattfindet, und sei sie noch so fremd oder flüchtig. Der Ground to Air-Emergency Code wird in Situationen genutzt, in der von einer Begegnung keine Rede sein kann, und allenfalls von einer Sichtung, nicht aber vom Sehen eines Gegenübers.
Gemeinsam stranden
Seriously injured.
Vielleicht kann man sagen, dass Missverständnisse nur dort entstehen, wo Platz, Zeit und Spiel für Interpretationen ist, für die Unterstellung. Das erfordert ein gewisses Vokabular, eine gewisse Komplexität der Grammatik und eine gewisse Vielzahl der Zeichen, die zur Verfügung stehen müssen. Was Missverständnisse brauchen, um aufzutreten, ist Kultur, d.h. Gewohnheit, und Projektion, d.h. Fremdheit.
Das Missverständnis muss nicht verbalsprachlich sein, es erscheint genauso gut in Gesten, Blicken, Regungen, Lautäußerungen, Bewegungen. Eins der universellsten internationalen Missverständnisse z.B. verläuft völlig nonverbal: das Links-Rechts-Spiel auf dem Gehweg, das von zwei oder mehr Spieler*innen gespielt wird, die einander abwechselnd missverstehen, sodass sie einfach nicht aneinander vorbeigehen können. Das Aneinandervorbeigehen ist nicht möglich, weil hier ein Aneinandervorbeireden der Körper passiert: Die Körpersprache sagt, Ich geh da lang, aber da geht schon wer, der umplant, während die Gehende ebenfalls umplant, womit der gleichzeitig Umplanende nicht gerechnet hat.
Die Sache mit dem Missverständnis ist, dass das Missverständnis eben kein Nichtverständnis ist, sondern ein vollausgebildetes, aber eben ein ganz anderes Verständnis der Situation. Die Kollision zweier Verständnisse, die nur nicht deckungsgleich sind, weil sie auf jeweils eigener, abweichender Einschätzung basieren. So stehen wir voreinander und wissen nicht, wie wir uns je lösen können. Gestrandet auf der eigenen Warte.
Dann braucht es einen Face to Face-Emergency Code. Denn das Missverständnis ist ja ein Notfall der Sprachen und ein Fall überhaupt. – Aber dabei weniger ein Kasus als ein Modus, man dekliniert es nicht, man konjugiert es. Es ereignet sich als Phänomen, ja, aber als Verb, als Tätigkeit: Es wird aktiv praktiziert am, mit dem und durch das Gegenüber. Das hat das Missverständnis vielleicht auch mit dem Tanz gemeinsam, dem diese Seiten sich nun nicht unerheblich widmen.
Das Missverständnis kann eine Verletzung sein: der Regeln, der Pläne, des Gegenübers. Es kann dazu führen, dass der Redefluss gestört wird, dass Menschen sich abwenden, Beziehungen kappen oder schlecht voneinander denken. Dass Verabredungen scheitern. Dass die Dinge kompliziert werden. Im Missverständnis tritt wie in wenigen Situationen die Sprache deutlich hervor, scheint auf, wird sichtbar als prekäres Instrument, als ein verstimmtes sogar. Das Missverstehen gibt den Blick frei auf ihre Kontur: Hier ist eine Grenze, da kommen wir nicht weiter, da führt kein Weg zu einander, weil kein Weg drumherum führt. Noch nicht. Wir können innehalten, stehenbleiben, verhandeln, was das eigene Verständnis ist. Wir müssen sprechen, um das Missverstehen zu lösen, mit dem Körper oder dem Mund.
Zwischen Verständnis und Falschverständnis handeln wir etwas aus, machen einen Kompromiss, treffen uns, wie man so sagt, in der Mitte. Wir treffen uns im Missverständnis, genau zwischen uns, wo es entsteht, wo es schwebt, in der Luft hängt als etwas, das wir teilen. Kaum etwas macht die Kommunikation so deutlich wahrnehmbar wie etwas, das wir aushandeln müssen, das ein gemeinsames Problem darstellt, das nur gemeinsam geklärt werden kann: Da stehen wir uns gegenüber und etwas steht dazwischen, das uns trennt und das doch nur deshalb entstanden ist, weil wir etwas teilen, weil wir mit einander zu tun haben, weil wir sprechen, weil wir spielen in der Sprache, an der wir auf Grund gelaufen sind. Gestrandet am fremden Code, den wir noch nicht entziffern können.
Verstehen als Weg durch andere Gründe
Need a compass and a map.
Es ist Teil des Selbstverständnisses von TachoTinta, in die künstlerische Arbeit eine sogenannte »Expertise in kulturellen Missverständnissen« einzubringen. Vielleicht könnte man auch sagen, das Missverstehen ist der Arbeitsmodus von TachoTinta, ein szenischer und thematischer Modus von Sprechen, Bewegung und körperlichem Ausdruck. Körper wie Text fragen vielleicht: Was halten Sie für normal? Wir dachten, es sei vielleicht dieses hier. Was halten Sie für Tanz? Was sind Ihre Erwartungen? Haben Sie da vielleicht eine kulturelle Prägung? Ich unterstelle TachoTinta solche und ähnliche Fragen bei der Arbeit. Das könnte allerdings auch ein Missverständnis sein. Das sollten wir besprechen. Was ich unmissverständlich zu wissen glaube, ist, dass TachoTinta nicht gegen, sondern mit Missverständnissen arbeiten, dass sie sie künstlerisch einsetzen, aktivieren, produzieren und gleichzeitig zum Thema machen: in der künstlerisch programmatischen Verhandlung von Missverständnissen im gleichzeitigen Modus des forschenden Praktizierens von Missverständlichkeiten. TachoTinta bringen Kompass und Karte in diese Situationen, sie orientieren sich, ihre Arbeit und uns anhand dessen, was missverstanden wird oder werden könnte.
Was diese Arbeit, diese Expertise und das Nachdenken über das Missverständnis deutlich macht, ist neben der unschätzbar großen Anzahl an Gelegenheiten, sich misszuverstehen, besonders der dialogische Effekt des Missverständnisses: Es fordert ein Aushandeln, eine gemeinsame Arbeit an der Sprache, am Blick, der Konvention und der Erwartung. Das Missverstehen ist eine kulturelle Praxis, die wichtig ist, allein schon, weil sie den Redefluss stoppt, ein Innehalten einfordert, das wir uns ohne sie nicht einräumen würden. Hier wird Reflexion möglich im schnellen Wechsel von Worten, Gesten, Blicken. Entgegen der Intuition wird hier offenbar, dass das Missverständnis ein intensiver kommunikativer Akt ist, der einen erhöhten Grad an Reflexion, Empathie, Wendigkeit und gegenseitiger Moderation erfordert, und zwar unverhofft, plötzlich und unvorhergesehen. Das Missverständnis stößt die Missverstehenden wie Missverstandenen jäh hinein in eine Situation, in der blinde Flecken sichtbar werden und gemeinsam betrachtet werden wollen. Das Missverständnis zeigt auf angenommene Selbstverständlichkeiten, auf Projektionen: Was tut das Gegenüber? Wieso? Was meint mein Gegenüber, was denkt es? Das gemeinsam betrachtete Missverständnis, dem die beteiligten Sprachspieler*innen im besten Fall irgendwann auf die Spur kommen, erzählt viel über die Missverstehenden: Wie denken sie? Wie kommen sie auf dieses Verständnis? Was trauen sie dem Gegenüber zu? Was haben sie denn erwartet? In der inneren Formulierung dieser Fragen wird eine Betrachtung der vermeintlichen Selbstverständlichkeiten möglich, die im je eigenen Denksystem als unmissverständlich angenommen wurden, weil es ja keine Selbstmissverständlichkeiten gibt. Wir stellen fest, wie festgestellt wir waren, bevor wir missverstanden wurden.
Wenn die Verhandlung dann geschlossen, alles aufgelöst und ausgeräumt ist, bleiben noch die Spuren, die das Missverständnis hinterlässt: Die Erinnerung an einen Schreck, an eine Bestürzung, eine Verletzung, eine Fehlannahme, eine Überraschung, eine Situationskomik; das Missverständnis ist schließlich keine Kleinigkeit, es bleibt etwas zurück. Es ist ein Grenzfall des Austauschs. Im Missverständnis treten wir jeweils am leuchtendsten hervor. Als Wesen, die denken, fühlen, interpretieren, Vorhersagen treffen, Annahmen haben, irren, sich nicht erklären können. So besehen besitzt das Missverständnis ungeheuer dichte szenische, choreographische und politische Qualitäten. Hier ist TachoTintas Arbeit an der Begegnung.
Das Missverständnis ist eine Pause. Ein Luxus der Sprachen zwischen den Menschen. Es kann nur dort entstehen, wo Wesen sind, die sich austauschen. Es wächst hervor aus dem Spiel, in einem doppelten Sinn: wo etwas Spiel hat, nicht festsitzt, nicht fix und fertig ist, wo die Begriffe, Vorhaben und Wahrnehmungen in Frage stehen, und wo ein Spiel mit einander gespielt werden kann, dessen Thema es ist, was wir annehmen, was wir dem Gegenüber zutrauen, was wir wie interpretieren. Ein Sprachspiel zum Beispiel. Und Kunstmachen, das kann z.B. heißen, möglichst gewiefte Missverständnisse zu inszenieren. Ich rechne damit, aber es wird mir nichts nützen.
All is well.